1924 - 1999
Brother John Sellers (1924-1999), liebevoll "Brother John" genannt und in Anlehnung an die berühmte Schwester Rosetta Tharpe, war eine schillernde Figur in der amerikanischen Musikgeschichte, deren Leben von den tiefen Wurzeln des Gospels und den rauen Realitäten des Blues geprägt war. Geboren 1924 in Clarksdale, Mississippi, einer Stadt, die untrennbar mit der Geschichte des Blues verbunden ist – unweit von Orten wie dem Unfallort von Bessie Smith und dem Fundort von Muddy Waters durch Alan Lomax –, prägten seine frühen Erfahrungen seine Musik und seinen Charakter zutiefst. Als verwaistes Kind, das bei einer Tante in Chicago aufwuchs, spiegelten seine Lieder oft die Härte, Einsamkeit und Armut seiner Kindheit wider, die von Misshandlungen sowohl durch Schwarze als auch durch Weiße gezeichnet war.
Die prägende, aber ambivalente Beziehung zu Mahalia Jackson
Sellers' Weg kreuzte sich früh mit dem von Mahalia Jackson. Schon als kleines Kind, angezogen durch die Arbeit seiner Tante mit den Johnson Singers, wurde er ein glühender Fan. Im Alter von etwa acht Jahren wurde er von Mahalia Jackson und ihrem damaligen Ehemann Ike Hockenhull aufgenommen und lebte für kurze Zeit bei ihnen. Hockenhull erwies sich als väterliche Figur, und Mahalia wurde zu Sellers' Ersatzmutter und einer entscheidenden musikalischen Mentorin. Unter ihrer Anleitung entwickelte er einen Gospel-Gesangsstil, der, wie er selbst zugab, eng an Mahalias Stil angelehnt war. In den 1940er Jahren tourte er mit ihr als Backgroundsänger durch Chicago und auf nationalen Bühnen.
Sellers war nicht nur ein musikalischer Begleiter, sondern auch einer von Mahalia Jacksons engsten Vertrauten und eine unverzichtbare Quelle für ihre Biografen Laurraine Goreau und Jules Schwerin. Er bezeichnete sich selbst als "On-Site-Quelle" und lieferte detaillierte Einblicke in die Dynamik und die oft scharfen Rivalitäten in der Gospelszene. Er beobachtete und berichtete über das "Aussitzen" von Sängern durch das Publikum – eine Form des schweigenden Protests –, und erzählte von einem denkwürdigen Vorfall in der Ebenezer Baptist Church, wo Mahalia eine anfangs skeptische Gemeinde, die Sallie Martin und Roberta Martin bevorzugte, durch ihre beeindruckende Performance für sich gewann.
Doch seine anfängliche Verehrung für Mahalia schwand, als ihr kommerzieller Erfolg zunahm und sie Charakterzüge zeigte, die ihn und andere beunruhigten. Er reiste mit ihr in Bussen und übernachtete in den Häusern von Fans, was ihm einen intimen Einblick in ihren Alltag und ihre Persönlichkeit verschaffte. Sellers kritisierte Mahalias Geiz mit Geld scharf. Er behauptete, sie habe niemanden bezahlt, wenn sie es vermeiden konnte, und behauptete, sie habe sogar ihre langjährige Begleiterin Mildred Falls gefeuert, nachdem diese eine Gehaltserhöhung gefordert hatte. Er wies Mahalia darauf hin, dass sie immer noch Notenblätter verkaufte, obwohl sie bereits für Könige und Königinnen sang.
Trotz dieser Spannungen akzeptierte er später ein Angebot von Mahalia, ihm 500 Dollar pro Woche zu zahlen, um ihr beim Einrichten ihres Hauses und Geschäftsbüros zu helfen und zu kochen, wohl wissend, dass es nur vorübergehend sein würde. Es schockierte und verärgerte ihn zutiefst, als er von Mahalias Gedenkfeier ausgeschlossen wurde und Aretha Franklin seinen Platz einnahm. Sellers drückte auch seine Besorgnis aus, als Mahalia sich mit Columbias "Jazzgeschäft" einließ. Aber er verteidigte sie auch eidenschaftlich gegen abfällige Bemerkungen von Johnny Meyers, als dieser sie abfällig als "dieses Mädchen" bezeichnete.
Sellers war ein Pionier: Er gehörte zu den ersten Gospelsängern aus Chicago, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit für ein Indie-Label aufnahmen. Im Juni 1944 unterzeichnete er einen Fünfjahresvertrag mit den Coleman Brothers aus Newark und zog nach New York. Seine ersten Platten nahm er im März 1945 in Chicago für Black and White Records auf. Dabei coverte er zwei von M;ahalia Jacksons Liedern, "God's Gonna Separate the Wheat from the Tares" und "You Sing On", und imitierte dabei ihren Gesangsstil. Seine 1946er Aufnahme von "Move On Up a Little Higher" für das unabhängige Chicagoer Label Miracle Records ist die erste bekannte Aufnahme des Liedes und stammte zweifellos aus Mahalias Repertoire.
Er war ein regelmäßiger Gast in Johnny Myers' Gospel-Programmen in New York City und spielte eine Rolle bei der Entscheidung, dass Johnny Myers Bess Berman dazu brachte, Mahalia aufzunehmen, da Meyers von Jacksons Talent überzeugt war. Ende der 1950er Jahre, belastet durch den Stress der Bindung an Mahalia und ihr Streben nach Ruhm, traf Sellers wichtige Lebensentscheidungen. Seinen größten Erfolg feierte er in den 1960er Jahren, als er sich als Folksänger neu erfand. John Hammond, eine Koryphäe der Musikindustrie, beauftragte ihn, zwei Alben für Vanguard Records aufzunehmen: "Brother John Sellers Sings Blues and Folk Songs" und "Jack of Diamonds and Other Folk Songs and Blues". Diese Aufnahmen, die vor seinen Touren in Kanada und Europa entstanden, waren sowohl kritisch als auch kommerziell erfolgreich und verschafften ihm einen starken Zugang zum europäischen Markt.
Sellers trat auch als Gesangsstimme in mehreren Werken des bahnbrechenden afroamerikanischen Tänzers und Choreografen Alvin Ailey auf, insbesondere in dem ikonischen Stück Revelations. 1958 nahm er die Einladung von Big Bill Broonzy an, sich ihm in England, Paris und Brüssel anzuschließen, und traf damit die Entscheidung, Chicago und Mahalia hinter sich zu lassen. Diese internationale Erfahrung festigte seine Position als vielseitiger Künstler. Nach Broonzys Tod organisierte Sellers einen Gedenkgottesdienst für ihn und war auch bei seiner Beerdigung anwesend.
Im Februar 1964 war er in einer Episode zu sehen, wo er "Coming Back Home to Live with Jesus" sang, begleitet von Dixon am Kontrabass und Thomas A. Dorsey am Boogie-Woogie-Piano. Sein ausführliches Interview mit Studs Terkel, das im Studs Terkel Archive verfügbar ist, gibt wertvolle Einblicke in seine Karriere als Blueskünstler und den tiefgreifenden Einfluss der Kirchenmusik auf sein künstlerisches Schaffen.
Brother John Sellers' Leben war eine bemerkenswerte Reise von bescheidenen Anfängen zu internationalem Erfolg. Er war nicht nur ein talentierter Musiker, sondern auch ein aufmerksamer Beobachter und Akteur in entscheidenden Phasen der Gospel- und Bluesmusik. Sein reiches musikalisches Erbe zeugt von seiner Anpassungsfähigkeit und seinem künstlerischen Feingefühl. Er ist in zahlreichen YouTube-Videos zu sehen und wird in unzähligen Büchern und Dokumentarfilmen über Mahalia Jackson als wichtige Referenz zitiert. Eine bemerkenswerte und vielleicht etwas kuriose Anekdote ist sein Treffen mit Cassius Clay (später Muhammad Ali) in Paris, wo er über diesen trat, während Clay auf dem Boden ruhte – ein Bild, das die ungezwungene Natur Sellers' und die faszinierenden Begegnungen seiner Karriere unterstreicht. Sellers' Geschichte ist eine bewegende Erinnerung an die Komplexität menschlicher Beziehungen, die Widerstandsfähigkeit des Geistes und die transformative Kraft der Musik.
©Thilo Plaesser