Improvisation

Spontanität als Kompetenz

Was ist Improvisation?

Improvisation, abgeleitet vom lateinischen improvisus“ („unvorhergesehen“), ist bei weitem keine Planlosigkeit. Sie ist ein fundamentaler kreativer Akt, der das Handeln, Gestalten und Denken ohne vorherige detaillierte Planung oder feste Vorgaben umfasst. Es kann aber auch ein Plan oder eine Vorgabe zu Grunde liegen, die man dann teilweise, oder sogar ganz verläss, um kreativ zu sein.

Im Kern geht es darum, auf spontane Weise auf eine gegebene Situation oder einen impulsiven Einfall zu reagieren, indem vorhandenes Wissen, Fähigkeiten und Erfahrungen flexibel und oft intuitiv neu kombiniert und angewendet werden. Diese Fähigkeit zur spontanen Anpassung und Kreation, ist in unserer globalen und dynamischen Welt zu einer Schlüsselkompetenz geworden.

Was Improvisation auszeichnet

Die Essenz der Improvisation liegt in mehreren charakteristischen Merkmalen, die sie von der reinen Reproduktion oder strikten Ausführung eines Plans abgrenzen:

Spontanität
Die improvisierte Handlung oder Äußerung entsteht im Hier und Jetzt, unmittelbar und ohne (ausreichende) Vorbereitung. Dies erfordert eine hohe Präsenz und die Bereitschaft, sich dem Moment hinzugeben.

Flexibilität
Improvisation verlangt die Fähigkeit, sich schnell an veränderte Umstände anzupassen und alternative Lösungswege zu finden, wenn der ursprüngliche Ansatz nicht mehr funktioniert oder neue Informationen vorliegen.

Kreativität
Im improvisatorischen Prozess werden neuartige Ideen oder Formen aus dem Stegreif generiert. Es ist die Kunst, aus dem Vorhandenen etwas Neues und Einzigartiges zu schaffen.

Adaptivität
Vorhandene Ressourcen – seien es Wissen, Fertigkeiten oder Materialien – werden im Kontext der aktuellen Situation genutzt und oft umgeformt, um ein Ziel zu erreichen oder eine Herausforderung zu meistern.

Unsicherheitstoleranz
Improvisation beinhaltet stets ein Element des Unvorhersehbaren. Der Umgang mit dieser Unsicherheit und die Akzeptanz potenzieller „Fehler“ als Teil des Lern- und Schaffensprozesses sind dabei entscheidend.

Prozessorientierung
Der Fokus liegt weniger auf einem vorab definierten Endprodukt, sondern vielmehr auf dem dynamischen Entstehungsprozess selbst. Das Ergebnis ist oft eine Momentaufnahme, die sich aus der Interaktion und dem Fluss ergibt.

Improvisation in verschiedenen Domänen

Obwohl der Begriff oft mit künstlerischen Bereichen assoziiert wird, ist Improvisation ein allgegenwärtiges Phänomen, das in zahlreichen Disziplinen und Lebensbereichen von entscheidender Bedeutung ist:

Kunst und Musik
In der Kunst und insbesondere in der Musik (z.B. Jazz, freie Improvisation), im Theater (Stegreiftheater, Impro-Comedy) und im Tanz ist Improvisation eine eigenständige Kunstform. Musiker entwickeln spontan Melodien und Harmonien, Schauspieler kreieren Dialoge und Charaktere aus dem Moment heraus, und Tänzer lassen Bewegungen im Einklang mit der Musik oder dem Raum entstehen. Hier dient die Improvisation nicht nur der Unterhaltung, sondern auch der Selbsterfahrung, der Entdeckung neuer Ausdrucksformen und der Interaktion mit dem Publikum oder anderen Künstlern.

Wissenschaft und Technik
Auch in der Wissenschaft und Technik spielt Improvisation eine wichtige Rolle. Bei der Forschung und Entwicklung treten häufig unerwartete Probleme auf, die schnelle, ad-hoc-Lösungen erfordern. Ingenieure entwickeln provisorische Ansätze, um eine Maschine am Laufen zu halten, oder passen Versuchsaufbauten spontan an, um unerwarteten Daten nachzugehen. Hier ist die Fähigkeit zur Improvisation entscheidend, um flexibel auf neue Erkenntnisse zu reagieren und den Fortschritt nicht ins Stocken geraten zu lassen.

Alltag und Management
Im Alltag und insbesondere im Management ist Improvisation eine unverzichtbare Kompetenz. Ob es darum geht, auf unvorhergesehene Ereignisse im persönlichen Umfeld zu reagieren, pragmatische Lösungen für plötzlich auftretende Herausforderungen im Berufsleben zu finden oder geplante Abläufe spontan anzupassen – die Fähigkeit zur Improvisation ermöglicht es, handlungsfähig zu bleiben und effizient zu agieren. Führungskräfte, die improvisieren können, sind oft resilienter und erfolgreicher im Umgang mit Krisen und schnellen Marktveränderungen.

Mahalia Jacksons komplexes Erbe

Mahalia Jacksons Karriere veranschaulicht die Spannung zwischen ihren religiösen Überzeugungen und ihren sozioökonomischen Wünschen. Während sie lukrative Angebote ablehnte, in Vergnügungsstätten aufzutreten, war sie auch bereit, populäre religiöse Lieder in ihr Repertoire aufzunehmen, um ein breiteres Publikum zu erreichen. Sie rechtfertigte dies theologisch, indem sie betonte, dass Lieder über Liebe und Einheit, wie „Danny Boy“, genauso wichtig seien, weil man Gott nicht lieben könne, ohne die Menschen zu lieben. Trotz ihres Ruhms erlebte sie weiterhin Rassendiskriminierung, wie ihre Unfähigkeit, bestimmte Restaurants zu betreten, zeigte. Sie unterstützte beispielsweise den Stadtrat William L. Dawson und Franklin Roosevelt, wobei sie Liedtexte änderte, um ihre Kandidatur zu fördern. Sie war ungewöhnlich offen dafür, bei progressiven politischen Veranstaltungen aufzutreten, einschließlich solcher, die von der linken Volksliedorganisation People’s Artists organisiert wurden.

In den frühen 1950er Jahren wurde die Religion aggressiv gefördert, auch durch „religiösen Pop“, als Instrument für antikommunistische nationale Einheit und als Reaktion auf die Ängste des Kalten Krieges (z. B. McCarthyismus, die „Bombe“ und Koreakrieg). Die Musikindustrie vermarktete religiöse Pop-Songs wie „Let's Go to Church Next Sunday Morning“ als Mittel zur Förderung religiöser Werte angesichts der „gegenwärtigen Weltlage“, die eine „Rückbesinnung auf die Religion“ erforderte. Kirchenführer schlugen sogar vor, Mahalia Jackson auf eine „Friedensmission des Gesangs“ hinter dem Eisernen Vorhang zu schicken, in der Überzeugung, dass ihre Wirkung alle Worte übertreffen würde.

Bedeutung in der Pädagogik

In der Pädagogik wird Improvisation bewusst als Methode eingesetzt. Durch improvisierte Spiele, Rollenspiele oder kreative Übungen werden bei Lernenden nicht nur Kreativität und Problemlösungskompetenz gefördert, sondern auch soziale Fähigkeiten wie Empathie und Kommunikation geschult. Sie lernen, sich auf Unerwartetes einzustellen und im Team spontan zu agieren.

Improvisation als qualifizierte Handlung

Es ist wichtig zu betonen, dass Improvisation keineswegs mit Willkür oder Planlosigkeit gleichzusetzen ist. Ganz im Gegenteil: Sie setzt in der Regel ein hohes Maß an Kompetenz, Erfahrung und intuitivem Verständnis des jeweiligen Kontextes voraus. Die scheinbar mühelose, spontane Reaktion basiert auf einem tiefen Reservoir an verinnerlichtem Wissen und Können. Wer improvisiert, greift auf Gelerntes zurück, kombiniert es jedoch auf neue und oft überraschende Weise.

In einer Welt, die sich immer schneller wandelt und in der Komplexität sowie Unsicherheit zunehmen, wird die Fähigkeit zur Improvisation zu einer unverzichtbaren Qualifikation. Sie ermöglicht es uns, flexibel zu bleiben, kreative Lösungen zu finden und uns auch in unvorhersehbaren Situationen souverän zu bewegen. Improvisation ist somit keine Notlösung, sondern eine hochentwickelte Form der Anpassung und Kreation, die uns befähigt, in einer sich ständig verändernden Umgebung erfolgreich zu sein.

Improvisation in der Gospelmusik

Die improvisatorische Ästhetik der Gospelmusik speist sich aus einem reichen Fundus kultureller und religiöser Traditionen:

Westafrikanische Traditionen
Gospel als Performance-Ästhetik ist ein direktes Produkt westafrikanischer rhythmischer, emotionaler und improvisatorischer Vorläufer. Der „vom Geist geleitete“ Gesang, der in den frühen Azusa Street-Gottesdiensten praktiziert wurde, wurzelt in diesen Traditionen. Er förderte die Beteiligung aller Gemeindemitglieder, unabhängig von ihrer musikalischen Vorbildung, und legte den Grundstein für die kollektive musikalische Entfaltung.

Sanctified (Pfingst-)Kirchen
Für Mitglieder der Church of God in Christ (COGIC) war Musik per Definition improvisiert und konnte sich jederzeit, inspiriert durch die Gegenwart des Heiligen Geistes, manifestieren. Gottesdienste waren hier lebendig, zwanglos und emotional, was den Gemeindesinn südlicher Gottesdienste, die Spontaneität von Azusa und westafrikanische religiöse Traditionen widerspiegelte.

Frühe Aufnahmen
Pionierinnen wie Arizona Dranes, die als erste Gospelpianistin gilt, spiegelten den improvisierten Schwung des geweihten Gottesdienstes in ihren frühen Aufnahmen wider. Sie nutzte antiphonale Gesänge (Ruf und Antwort) und weltliche Stile wie das Barrelhouse-Piano und legte damit den Grundstein für die Gospelmusik.

Entwicklung in Chicago
In den frühen 1930er Jahren versuchten baptistische Einrichtungen in Chicago, junge Erwachsene durch ansprechendere musikalische Gottesdienste an die Kirche zu binden. Thomas A. Dorsey, der ja Blues-Pianist war, bevor er sich ganz der Gospelmusik widmeter, spielte dabei eine entscheidende Rolle und wurde zu einem einflussreichen Katalysator dieser musikalischen Erneuerung, in dem er Blues-Elemente in den Gospel einbrachte.

Vokale Improvisationstechniken

Die Stimme als Instrument des Glaubens
Gospelsänger nutzen eine breite Palette an stimmlichen Techniken, um zu improvisieren und tiefe Emotionen auszudrücken:

Melodische Verzierungen
Künstlerinnen wie Mahalia Jackson verlangsamten oft das Tempo alter Spirituals, um Silben zu dehnen und mit ihnen zu spielen. Sie setzten Triller, Melismen (eine Silbe auf mehreren Tonhöhen) ein, um Melodien im Rubato-Stil zu gestalten. Auch das Summen war ein Element, das Mahalia gerne eingesetzt hat. Sie hat sogar ganze Strophen gesummt. Ein bekanntes Beispiel ist zum Beispiel „Come Sunday“ auf der Aufnahme “Black, Brown & Beige“ mit Duke Ellington.

Rhythmische Freiheit
Mahalias Gesang zeichnete sich durch einen charakteristischen „Bounce“ aus, der rhythmisch energiegeladen war. Sie selbst führte einen Großteil dieses „Schwungs“ auf ihre musikalische Herkunft zurück. Einige Beobachter hörten in ihrem Gesang sogar einen perkussiven Stil, der ihre unbewusste Bemühung widerspiegelte, die „perkussiven Ticks“ der Trommelschläge nachzuahmen, was ich aber für „weit hergeholt“ halte. Ich denke eher, dass sie diese Rhythmen instinktiv, innerlich hörte und fühlte und dann darauf mit ihrem Gesang reagierte.

Vokale Effekte
Gospelgesang schöpft aus dem gesamten Spektrum menschlicher Stimmproduktion – von rauen Blues-Lauten über halb schreiende, halb rezitativische Zwischentöne bis hin zu echten Schreien und Rufen. Aber auch warme, zarte und leise Töne gehörten vor allem bei Mahalia Jackson zum Repertoire ihrer Möglichkeiten. Es ist eine Kunstform, die Melismen, Glissandi, Vibrati und Blue Notes virtuos einzusetzen.

Call-and-Response
Die „Gospel-Wippe“ ist ein metrischer und rhythmischer Aspekt, der im Dialog zwischen einem Solisten und einer Begleitgruppe verwurzelt ist, wobei Lead- und Backing-Sänger Phrasen abwechseln. Aber auch Solisten bedienen sich dieser Form, in dem sie “Frage und Antwort“ unterschiedlich gestalten. Das kann zum Beispiel durch eine dynamsiche Abstufung geschen; die Frage ist laut, die Antwort ist leise, oder durch Ändern der Klangfarbe der Stimme.

Flexibilität der Phrasierung
Hattie Parker zeigte eine großzügige Verwendung von Stimmgleitern und Grace Notes sowie eine kurze, kantige Phrasierung, die die „Freiheit einer baptistischen Hymnensängerin“ demonstrierte. Mahalia Jackson unterteile Wörter in beliebig viele Silben und wiederholte oder verlängerte Satzenden, um die Wirkung zu verstärken.

Mahalias vokale Improvisationstechniken

Mahalia Jacksons Gesang war der Inbegriff improvisatorischer Meisterschaft und eine zutiefst persönliche sowie spirituelle Ausdrucksform, die untrennbar mit ihren Wurzeln in New Orleans und den Erfahrungen der afroamerikanischen Gemeinschaft verbunden war.

Melodische Verzierungen und Phrasierung
Mahalia Jackson war bekannt dafür, Melodien in Balladen, Spirituals und Hymnen im Rubato-Stil zu verzieren. Sie dehnte Silben und spielte mit ihnen, setzte Triller und Stöhnen ein, summte oft ganze Strophen, und verwenderte ausgedehnte Melismen (mehrere Tonhöhen auf einer Silbe). Ihr Gesang wies eine „melodische Geschicklichkeit“ auf und ihre flexible Phrasierung erlaubte den ausdrucksstarken Einsatz von Gesangsläufen. Sie konnte Wörter in beliebig viele Silben zerlegen oder Satzenden wiederholen und verlängern, um die Wirkung zu verstärken. Diese Art der Verzierung war in der europäischen Vokaltradition nicht vorgesehen, was Mahalias Spontaneität unterstreicht.

Rhythmische Freiheit und „Bounce“
Mahalia Jacksons Gesang zeichnete sich durch einen charakteristischen „Bounce“ aus, der rhythmisch energiegeladen war. Sie beschleunigte den Beat und legte Freude in ihre Stimme. Während einige Quellen behaupten, sie habe das Tempo eines Liedes nie beschleunigt, zeigen andere, dass ihr Tempo erheblich schwanken und sich im Laufe eines Liedes beschleunigen konnte. Ihre improvisatorischen Fähigkeiten zeigten sich auch in der Fähigkeit, den Takt nach Belieben zu verschieben.

Vokale Effekte und Ausdruck
Ihr Gesang nutzte das volle Spektrum der menschlichen Stimme: von rauen Blues-Knurrlauten über halb schreiende, halb rezitativische Zwischentöne bis hin zu Schreien, Rufen, rauen Tönen, breiten Vibrati und hohen, schrillen Tönen. Sie setzte Halbtöne, Vor- und Nachschläge, Glissandi und Blue Notes ein. Ihre Diktion reichte von präzise bis zur fast vollständigen Auflösung der Wortbedeutung im Klang, manchmal akademisch, manchmal im breiten Südstaaten-Dialekt. Ihre Fähigkeit, aus voller Kehle zu singen („Belting“), war ein Markenzeichen ihrer Apollo-Aufnahmen und zeigte ihr beeindruckendes Potenzial.

Call-and-Response
Die „Gospel-Wippe“ (Gospel-Seesaw) war ein wichtiger rhythmischer Aspekt, der auf dem Dialog zwischen einem Solisten und einer Begleitgruppe beruhte. Mahalia nutzte diese Struktur, um Phrasen zwischen sich und den Begleitern abzuwechseln.

Flexibilität der Phrasierung
Hattie Parker zeigte eine großzügige Verwendung von Stimmgleitern und Grace Notes sowie eine kurze, kantige Phrasierung, die die „Freiheit einer baptistischen Hymnensängerin“ demonstrierte. Mahalia Jackson unterteile Wörter in beliebig viele Silben und wiederholte oder verlängerte Satzenden, um die Wirkung zu verstärken.

Einflüsse auf Mahalias Improvisation

Mahalia Jacksons einzigartiger Improvisationsstil wurde von verschiedenen Quellen geprägt:

New Orleans-Wurzeln
Mahalias Improvisationsstil war stark von der Musik ihrer Heimat New Orleans geprägt, insbesondere von Jazz-Orchestern, Marching Bands und dem „Gesangston“ der Baptistenprediger (Schreie, Stöhnen, Gesänge). Sie sog die Klänge des Fourteenth Ward auf, die ihren Stil prägten.

Sanctified (Pfingst-)Kirchen
Die Sanctified oder Holiness Church beeinflusste ihr Leben und ihre Kunst tiefgreifend. Der improvisierte Musikstil dieser Kirchen, mit ihrem lebhaften und zwanglosen Gottesdienst, förderte die spontane Beteiligung aller Gemeindemitglieder. Ihr „heiliger Tanz“ und die körperliche Darbietung, die von freudiger Freiheit und innerer Überzeugung geprägt waren, stammten direkt aus der geweihten Kirche und der New Orleans „Second Line“.

Blues- und Jazz-Einflüsse
Obwohl Mahalia sich weigerte, Blues oder Jazz zu singen, weil sie es als „Lieder der Verzweiflung“ ansah, die im Gegensatz zur „Hoffnung“ des Gospels standen, spiegelte ihr Gesang dennoch den Einfluss dieser Genres wider. Ihre frühe Gesangsweise war von der emotionalen Kraft und Improvisation des Blues geprägt. Kritiker verglichen ihren Stil oft mit dem von Blues-Sängerinnen wie Bessie Smith, wobei ihre Stimme ebenso kurvte und glitt. Sie integrierte Elemente des Dixieland Jazz in ihre Interpretationen und verwendete jazzige Effekte in ihren Auftritten.

Informelles Lernen
Mahalia hatte keine formale musikalische Ausbildung. Sie lernte durch Hören, insbesondere von anderen Sängern auf Schallplatten wie Roland Hayes, Grace Moore und Lawrence Tibbett, von denen sie Diktion und Atemtechnik lernte. Sie beschrieb ihren Gesang als etwas, das ihr „natürlich“ kam.

Instrumentale Improvisation

Auch Instrumentalisten tragen maßgeblich zur improvisatorischen Natur der Gospelmusik bei.

Spontaneität
Bei Aufnahmen wurden Musiker oft angewiesen, Spontaneität zu nutzen, indem sie lediglich Akkordwechsel erhielten, aber keine detaillierten Noten.

Jazz- und Blues-Einflüsse
Der Pianostil von Arizona Dranes kodifizierte und verbreitete den Gospel-Pianostil und integrierte Boogie- und Ragtime-Elemente. D.C. Rice’s Trompeter spielten kühn und schwungvoll und waren mit den Grundlagen eines Jazz-Solos vertraut. Thomas A. Dorsey integrierte Blues-Akkorde wie gesenkte Terzen, Quinten und Septimen in seine Kompositionen und prägte so den Gospel-Sound maßgeblich.

Rolle des Klaviers und der Orgel
Das Klavier und die Hammond-Orgel wurden zu Standardinstrumenten im Gottesdienst. Das Gospel-Piano entwickelte sich von einer reinen Begleitfunktion zu einer solistischen Rolle innerhalb seiner Akkordstrukturen. Pianisten improvisieren mit polychordalen Konstruktionen und polyrhythmischen Elementen. Die Noten für Gospelmusik sind oft bewusst einfach gehalten, um dem Interpreten viel Raum für umfangreiche Improvisationen zu lassen.

Beziehung zu anderen Genres und Stilrichtungen

Gospelmusik und ihre Improvisation weisen eine enge Verbindung zu weltlichen Genres auf:

Blues und Jazz
Thomas A. Dorsey führte Gospelmusik als eine Mischung aus Blues und Jazz ein. Mahalia Jackson erklärte sogar, dass der „Bebop“ direkt aus dem Gospel stamme. Sie sah Jazz und Gospel als zwei Ausdrucksformen, die aus einer gemeinsamen rhythmischen und harmonischen Basis entstanden sind.

Pop und R&B
Afroamerikanische Popkünstler wie Little Richard, Etta James, James Brown und Jackie Wilson integrierten Gospeltechniken in ihren Gesang und ihre Auftritte. Die musikalische Mischung aus Gospel, R&B und Soul, die sich auf das Thema der menschlichen Beziehung zu Gott durch die Beziehung zu ihren Mitmenschen konzentriert, wurde als Gos-Pop bekannt.

Einstellungen zur Improvisation

Nicht alle sahen die Vermischung von Gospel mit weltlichen Stilen und die ausgedehnte Improvisation positiv:

Widerstand
Edward Boatner, Chorleiter der Pilgrim Baptist Church, empfand es als „entwürdigend“, Jazzrhythmen in der Kirche zu hören. Reverend George W. Harvey verurteilte 1939 das „Swingen von Spirituals“ als „profane Entweihung“. Die National Baptist Convention forderte „bessere Kenntnisse der Kirchenmusik“ und warnte vor „übertrieben theatralischen“ Darbietungen, die charismatische Kunstfertigkeit über fromme Integrität stellten.

Dorsey's Kritik
Thomas A. Dorsey kritisierte Gospelsänger, die alte Lieder neu auflegten und die Urheberschaft beanspruchten, ein Problem, das durch Sister Rosetta Tharpes Bearbeitung seines Liedes „Hide Me in Thy Bosom“ zu dem swingenden „Rock Me“ ausgelöst wurde.

Anpassung
Mahalia Jackson musste ihre Darbietungen an den Geschmack und die Anbetungsstile verschiedener Gemeinden anpassen, was bedeutete, ihren ekstatischen Gesang für methodistische Gemeinden einzuschränken. Auch auf ihren Europatourneen sang sie eher in einem Stile einer klassischen Konzertsängerin, ohne aber ihre Herkunft zu verleugnen. Im Gegenteil, sie schuf damit quasi ein neues Genre, was aber nur sie selbst bedienen konnte.

Mahalias Haltung zur Improvisation

Spontanität vs. Formalität

“Bis der Geist kommt“
Wenn Mahalia Jackson davon sprach zu singen "bis der Geist kommt", meinte sie damit einen Moment der spirituellen Präsenz. Es war ein Zustand, in dem sie sich nicht mehr als ausführende Künstlerin, sondern als Vermittlerin einer göttlichen Botschaft verstand. In diesem Moment war es nicht mehr sie, die sang, sondern der Geist, der durch sie wirkte. Dieser Zustand ist vergleichbar mit dem, was als "Flow" oder "Es spielt" zu beschreiben ist. Man handelt nicht bewusst, sondern lässt es geschehen. Das Nachdenken tritt in den Hintergrund, und die Musik fließt scheinbar von selbst, angetrieben von einer höheren Kraft.
Für Mahalia war dieser Moment ein Geschenk, unvorhersehbar und unkontrollierbar. Aus diesem Grund konnten ihre Auftritte in ihrer Dauer so stark variieren. Sie hat nicht eine vordefinierte Show abgeliefert, sondern gewartet, bis dieser besondere Moment eintrat. Erst dann entfaltete sich die volle Kraft ihrer Darbietung, die sich in ausgedehnten, emotional aufgeladenen Versionen ihrer Lieder manifestierte.


“Soli Deo Gloria“ – “Die Ehre gebührt Gott allein“
Die Inschrift "Soli Deo Gloria" (SDG) setzte Johann Sebastian Bach unter alle seiner Werke. Bach war bekanntlich auch ein begnadeter Improvisator. Dies zeigt, dass diese tiefe Demut und das Verständnis, ein Talent im Dienste Gottes einzusetzen, nicht nur in der Gospelmusik, sondern auch in der klassischen Musik eine zentrale Rolle spielten. Sowohl Bach als auch Mahalia Jackson betrachteten ihr außergewöhnliches Talent nicht als ihren eigenen Verdienst, sondern als eine Gnade, die ihnen von Gott zuteilwurde. Sie waren beide Vermittler, die ihre Musik nicht für den eigenen Ruhm, sondern zur Verherrlichung Gottes nutzten.

Ihre Musik war deshalb auch keine „Unterhaltung“ für sie selbst, sondern eine direkte Kommunikation mit dem Göttlichen. Es war ein Akt des Glaubens, der ihre Zuhörer mitnehmen und auf einer spirituellen Ebene berühren sollte. Die Anerkennung und Wertschätzung, die Sie dieser Haltung entgegenbringen, zeigt, wie tief und universal die Botschaft dieser beiden Ausnahmekünstler ist.

Anpassung an neue Medien
Das Anpassen bei Tonaufnahmen oder die zeitliche Eingrenzung (oft Sekundengenau) viel ihr sehr schwer, denn es widerspracht ihrer Auffassung von Interpretation der Musik. Als sie bei Columbia Records unter Vertrag genommen wurde und im Fernsehen auftrat, wurde ihre improvisatorische Freiheit eingeschränkt. Die Produzenten verlangten, dass die Lieder in zwei oder drei Minuten fertig sein sollten, und das Orchester sollte ihre Begleitung straffer gestalten. Dies führte dazu, dass sie zwei Aufführungsstile entwickelte: einen für Aufnahmen und einen für Live-Auftritte. Sie war unglücklich über die Lieder, die Columbia für sie auswählte und in die sie sich nicht „hineinversetzen“ konnte.

Kritik und Akzeptanz
Während einige konservative Kirchenkreise ihre „rockigen Beats“ und „Schlangenhüften“ kritisierten, wurde ihr Stil von anderen als Ausdruck des volkstümlichen, südlichen Gesangs gefeiert. Ihre improvisatorische Freiheit und ihr spontaner Stil wurden von Kritikern oft als „unverdorbenes Genie“ und „große Künstlerin“ gelobt, die eine „Erfahrung“ und keine bloßen Konzerte schuf. Selbst Skeptiker in Europa zeigten sich von ihrer „perfekten musikalischen Schönheit“ und der „überzeugenden Kraft ihres Glaubens“ beeindruckt, auch wenn sie selbst keine Christen waren.

Zwei Improvisatons Genies !
Durch seine Erfahrung als Bluesmusiker, verfügte Thomas Dorsey über umfangreiche Improvisationskenntnisse und ermutigte Mahalia, ihre Fähigkeiten während ihrer Auftritte weiterzuentwickeln, indem er ihr Liedtexte reichte und Akkorde spielte, während sie Melodien erfand. Manchmal führte sie auf diese Weise 20 oder mehr Lieder auf. Sie konnte sich sehr gut in das Publikum einfühlen und Emotionen ausdrücken. Ihr Ziel war es, eine Kirche zu "zerstören" oder einen Zustand des spirituellen Pandämoniums unter dem Publikum zu verursachen, was ihr auch immer gelang.

Bei einer Veranstaltung sprang Dorsey in einem ekstatischen Moment vom Klavier auf und verkündete:

"Mahalia Jackson ist die Kaiserin der Gospelsängerinnen! Sie ist die Kaiserin! Die Kaiserin!!" 

Improvisation und zukünftige Trends

Im 21. Jahrhundert entwickeln sich die Improvisationspraktiken im Gospel weiter und zeigen neue Facetten:

Musikalische Risikobereitschaft
Zeitgenössische Gospelpianisten gehen größere musikalische Risiken ein und überschreiten stilistische Grenzen. Das ist für eine Entwicklung unabdingbar.
Gospelpianisten können nahtlos zwischen verschiedenen Genres wie Blues, Jazz, Klassik, Soul, Funk, lateinamerikanischen Rhythmen und R&B wechseln. Diese Hybridität hat es der Gospelmusik ermöglicht, sich über traditionelle afroamerikanische Märkte hinaus in den Mainstream zu bewegen.

Virtuosität und technische Brillanz
Das Niveau an Können, technischer Fähigkeit und Musikalität unter Gospelpianisten im 21. Jahrhundert hat drastisch zugenommen. Die Improvisation ist nach wie vor ein Hauptmerkmal dieses Stils. Die Asubildung von Gospelpianisten erfolgt auch weiterhin hauptsächlich durch informelles, auditives und erfahrungsbasiertes Lernen in der Kirche und durch das Hören anderer Gospelkünstler und verschiedener Genres. Mitlerweile gibt es auch viele, hochkarätig klassisch ausgebildete Musiker, die sich der Gospelmusik widmen. Das führt zweifellos zu einer stetigen Entwicklung und Veränderung der Ausdrucksform.

Kritisch gesehen - gehört
Meiner Meinung nach sind viele Arrangements heutzutage in allen Bereichen überfrachtet. Reichte früher ein Klavier und eine Orgel um einen Sänger zu begleiten, werden heute häufig komplette Bandbesetzungen, kleine Orchester und große Chöre eingesetzt. Außerdem sind die meisten Arrangements harmonisch und rhythmisch überfrachtet. Komplizierteste (wenn auch geniale) harmonische Strukturen, lassen die simplen Wurzeln vieler Songs vergessen. Unzählige Pianisten begleiten nicht, sondern spielen „ihr Solo“ zum Gesang. Jede Musikrichtung, auch die der Gospelmusik hat sich weiter entwickelt und wird sich auch in Zukunft verändern. Das ist auch gut. Wünschenswert wäre einen Tendenz zur Reduzierung, und Besinnung auf den Geist der Ursprünge.

Aber ja, das gibt es auch schon! Ich habe gerade eine Aufnahme entdeckt, die dieser Vorstellung entspricht; Reduziert, gekonnt, individuell, berührend, mitreißend, tradtionsbewußt und dennoch zukunftsweisend: Es ist die Platte “Sarah Brown Sings Mahalia Jackson“.

Dokumentation
Die Niederschrift der Musik ist heute ein wichtiger Schritt zum Schutz und zur Formalisierung der Gospelmusik, da sie die Weitergabe und Bewahrung unterstützt. Ebenso ist es heute sehr einfach Audio Aufnahmen zu erstellen, was früher viel mehr Aufwand und Kosten nach sich zog.

Die Improvisation bleibt ein dynamisches und unverzichtbares Element der Gospelmusik, das ihre Entwicklung vorantreibt und sie zu einer lebendigen, ständig sich wandelnden Kunstform macht.

©Thilo Plaesser